Mehrsprachigkeit, Zweisprachigkeit oder das Erlernen einer neuen Fremdsprache sind ein gutes Workout für unser Gehirn.
Eine Transkreation von Anette John, Werbetexterin & Übersetzerin bei steelecht
„Du hast so viele Leben, wie du Sprachen sprichst“, sagt ein tschechisches Sprichwort. Doch ist da etwas dran? Und haben Sie sich auch schon einmal gefragt, was Zwei- oder Mehrsprachigkeit mit unseren Gehirnzellen anstellt? Ob das Gehirn multilingualer Menschen besser oder einfach anders arbeitet als das von monolingualen? Mich interessieren diese Fragen sehr. Nicht nur, weil ich mit zwei Muttersprachen aufgewachsen bin (Deutsch und Polnisch) und beruflich Texte übersetze (aus dem Englischen oder Polnischen ins Deutsche), sondern weil ich fest davon überzeugt bin, dass das beherzte Springen zwischen diesen Sprachen meinen Alltag sehr bereichert.
Es gibt viele Gründe dafür, warum ich Mehrsprachigkeit toll finde: Die Zahl der Menschen, mit denen ich theoretisch ins Gespräch kommen kann, wächst mit jeder (neuen) Sprache – und das erweitert unweigerlich meinen Horizont, gibt mir einen besseren Einblick in andere Lebenswelten und macht auch die Kommunikation auf Reisen häufig leichter.
Ich kann dadurch Bücher und Filme in der jeweiligen Originalsprache genießen und deshalb aus erster Hand die „Ur-Atmosphäre“ der Handlung einatmen und ein besseres Gespür für die Geschichte erhalten. Außerdem kann ich mit Menschen, die ebenfalls bi- oder multilingual sind, diese herrlichen Gespräche führen, in denen wir zwischen zwei bis drei Sprachen hin- und her wechseln und uns trotz, oder vielmehr genau wegen dieses leicht „babylonischen Sprachgewirrs“ bestens verstehen. Der Luxus dabei: Wir greifen uns einfach immer die Wörter in der jeweiligen Sprache heraus, die am besten ausdrücken, was wir sagen möchten, oder die uns als erstes in den Sinn kommen. Und last but not least: Als Übersetzerin habe ich die Möglichkeit, die Mehrsprachigkeit als Werkzeug zur Vermittlung zwischen Menschen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen zu nutzen. Eine Aufgabe, die mir sehr viel Freude macht.
Kognitives „Workout“
Früher herrschte oft der Irrglaube, dass Zwei- oder Mehrsprachigkeit zur Verwirrung und Überforderung führt – insbesondere bei Kindern. Es gab viele Schwarzmaler, die behaupteten, wer mit zwei Sprachen aufwächst, beherrscht letztlich keine davon richtig. Und so wurde oftmals von einer zweisprachigen Erziehung abgeraten. In den letzten ca. 15 Jahren wurden jedoch zahlreiche Studien durchgeführt, die sich mit den Auswirkungen von Zweisprachigkeit auf das Gehirn beschäftigten. Dabei stellte sich heraus, dass Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, von diesem Umstand durchaus profitieren.
Die positiven Auswirkungen auf die Struktur des Gehirns entsprachen in etwa dem eines körperlichen Workouts, bei dem Muskeln, Gewebe und Organe aktiviert werden und das uns schließlich zu mehr Stärke und Resilienz verhilft. Anders gesagt: Je mehr wir unser Gehirn durch das Anwenden mehrerer Sprachen trainieren, desto besser funktioniert die Vernetzung unserer Gehirnzellen. Auch unsere Großhirnrinde gewinnt dadurch an Masse, die Dichte unserer grauen Zellen nimmt zu und die weiße Substanz (lat. Substantia alba) des Gehirns, die überwiegend aus Nervenfasern besteht und die grauen Zellen in Form von Leitungsbahnen miteinander verbindet, wird gestärkt.
Mehrsprachigkeit verzögert Ausbruch von Alzheimer
Mehrsprachigkeit kann sich offenbar auch auf unsere gesundheitliche Verfassung auswirken. Im Rahmen einer Studie der York Universität in Toronto entdeckte Ellen Bialystock, dass bei mehrsprachigen Patienten die Symptome von Alzheimer vier bis fünf Jahre später auftraten als bei den einsprachigen, die über die gleiche Krankheitspathologie verfügen. Sie geht ebenfalls davon aus, dass Bilingualität eine bessere „Verdrahtung“ innerhalb des Gehirns zur Folge hat. Die „exekutiven Funktionen“ des Gehirns werden gestärkt. Darunter versteht man die geistigen Fähigkeiten, „die ein schnelles, zielorientiertes und situationsangepasstes Denken und Handeln ermöglichen“.
Ebenso verhält es sich mit den sogenannten „kognitiven Reserven“ unseres Gehirns. Darunter versteht man jene geistigen Potentiale auf die man im Alter zurückgreift, wenn die kognitiven Fähigkeiten nachlassen. „Rege geistige Tätigkeit, Bildung, berufliche Fertigkeiten, Sprachvermögen, ein reges Sozialleben führen zu einer ausgeprägten kognitiven Stimulation und verbessern Kompensationsstrategien. Diese Kompensationsstrategien vergrößern die kognitive Reserve.“
Gehirnschäden werden bei Mehrsprachigen besser kompensiert
Das geht so weit, dass mehrsprachige Menschen sogar Gehirnschäden besser kompensieren können. So kommt eine Studie mit 600 Indern, die einen Hirnschlag überlebt hatten, zu dem Ergebnis, dass jene, die zwei Sprachen beherrschten, sich doppelt so schnell erholten wie diejenigen, die nur ihre Muttersprache sprachen. Viele Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre bestätigen außerdem, dass unser Gehirn viel „formbarer“ ist als angenommen und wir unsere Hirnanatomie aktiv beeinflussen können – und das in jedem Alter.
In Hinblick auf die mentalen Fähigkeiten, wie das Ausblenden irrelevanter Informationen, die Konzentrationsfähigkeit, Priorisierung, Multi-Tasking, Problemlösung und die Informationsaufnahme, beweisen mehrsprachige Menschen einen höheren Grad an Agilität als einsprachige. Eine Fähigkeit, die sich in den heutigen Zeiten der Informationsflut als klarer Vorteil erweist.
Mehr Sprachen – mehr Perspektiven
Mehrsprachigkeit kann außerdem die Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, beeinflussen. Susan Erwin-Tripp, eine Pionierin der Psycholinguistik der 1960er Jahre, kam bei ihren Forschungen zu der Schlussfolgerung, dass unsere Gedanken sich in Abhängigkeit zur Sprache formen. Zweisprachige Menschen haben also je nach Sprache zwei unterschiedliche Denkweisen („Mindsets“). Forschungen zeigen, dass jede Sprache über einen eigenen „kognitiven Werkzeugkasten“ verfügt – und somit Verben, Prädikate, Genus, Zeit, Raum, Metaphern und Wirkung je nach Sprache unterschiedlich ausfallen und das letztlich zu unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen führen kann.
„Eine andere Sprache zu sprechen, bedeutet eine zweite Seele zu besitzen.“
(Karl der Große)
Und tatsächlich fühlt es sich für viele bilinguale Menschen an, als würden sie in eine andere Haut schlüpfen, je nachdem welche Sprache sie gerade sprechen. Sie drücken ihre Emotionen jeweils anders aus und erzeugen damit unterschiedliche Wirkungen bei ihrem Gegenüber.
Beispiel: Verniedlichungen im Polnischen
Wie das aussehen kann, zeigt auch meine persönliche Erfahrung. Im Polnischen gibt es zum Beispiel die Neigung zu Verniedlichungen (Diminutiv). Aus einem „Haus“ wird im Gespräch gerne ein „Häuschen“ („dom“ zu „domeczek“), aus einer „Maus“ ein „Mäuschen“ („mysz“ wird zu „myszka“). Auch Verniedlichungen von Vornamen sind im polnischen Sprachgebrauch allgegenwärtig und völlig normal – sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext. Wenn man im Job also als „Pani Ania“ (übersetzt wäre es in etwa „Frau Annalein“) angesprochen wird, klingt das im Polnischen für mein Ohr völlig natürlich und sogar warm und freundlich. Im Deutschen dagegen würde ich es wohl als unangemessen empfinden – genauso wie die Kombination von der Ansprache „Frau“ und dem Vornamen. So variiert je nach Sprache durch die veränderte Ausdrucksweise auch die Persönlichkeit – zumindest ein klein wenig.
Unterschiedliche Sprachen – unterschiedliche Wahrnehmungen?
Wie unterschiedlich Handlungen bedingt durch die grammatikalischen Besonderheiten der jeweiligen Sprache wahrgenommen werden können, zeigt auch ein Experiment des Linguisten Panos Athanasopoulos. Dabei wurden Deutsch- und Englisch-Muttersprachlern kurze Videos von Menschen gezeigt, die etwas taten, z.B. von einer Frau, die zu ihrem Auto lief, und einem Mann, der auf seinem Fahrrad zum Supermarkt fuhr. Die Englisch-Muttersprachler konzentrierten sich auf die tatsächliche Handlung der Personen und beschrieben die Szene wie folgt: „A woman is walking“ oder „A man is cycling“ („Eine Frau geht“, „Ein Mann fährt Fahrrad“). Die Deutsch-Muttersprachler legten eine ganzheitlichere Sicht an den Tag und ergänzten die Handlung um die dahinterstehende Absicht, sozusagen das Ziel der Handlung. Sie sagten: „Eine Frau geht zu ihrem Auto“ oder „Ein Mann fährt mit dem Fahrrad zum Supermarkt“.
Diese variierende Wahrnehmung ist u.a. darauf zurückzuführen, dass sich die Grammatiken der beiden Sprachen voneinander unterscheiden. Die englische Sprache hat im Gegensatz zu der deutschen die Endung „-ing“, die Handlungen beschreibt, die zum Zeitpunkt des Sprechens stattfinden. Deshalb fügen Englisch-Muttersprachler weniger häufig das „Ziel“ einer Handlung bei der Beschreibung einer nicht eindeutigen Szene hinzu.
Als mehrsprachige Menschen (Englisch und Deutsch) im selben Setting getestet wurden, war ihre Perspektive erstaunlicherweise an das Land geknüpft, in dem der Test stattfand. Wurden die Zweisprachigen in Deutschland getestet, waren ihre Formulierungen „zielorientiert“, wurden sie in England getestet, waren sie „handlungsorientiert“ – egal in welcher der beiden Sprachen sie die Szene beschrieben. Das Experiment zeigt also sehr deutlich, welch großen Einfluss Kultur und Sprachen auf die Weltsicht von Menschen haben können.
„Jede Sprache eröffnet eine alternative Sicht auf die Welt.“
Panos Athanasopoulos, Professor für Psycholinguistik und Bilinguale Kognition, Lancaster Universität
Trend zur Multilingualität
Nach all diesen Fakten und Erkenntnissen frage ich mich, ob unser Gehirn nicht geradezu dafür gemacht ist, mehrere Sprachen zu verarbeiten? Und ob Menschen, die nur eine Sprache sprechen, womöglich nicht ihr volles Potential ausschöpfen? Der Neurowissenschaftler Thomas Bak von der Universität von Edinburgh geht zumindest davon aus, dass Mehrsprachigkeit bereits eine lange Tradition in der Menschheitsgeschichte hat. So sprachen die frühen Jäger und Sammler unterschiedliche Sprachen, um Handel mit anderen Völkergruppen zu betreiben, oder zur Verständigung auf Wanderschaft. Laut Bak geben uns die wenigen Völker dieser Kategorie, die bis heute überdauert haben, einen guten Eindruck davon. Er stellt fest: „Die modernen Jäger und Sammler sind fast alle mehrsprachig.“ In Australien, wo immer noch mehr als 130 einheimische Sprachen gesprochen wurden, ist Mehrsprachigkeit alltäglich.
Also machen wir es einfach wie unsere Vorfahren – die Jäger und Sammler! Es sieht ohnehin so aus, als wären wir auf dem richtigen Weg. Der größte Teil der Weltbevölkerung (ca. 60 bis 70%) spricht bereits mindestens zwei Sprachen. Wenn Sie dazu gehören, wird Ihr Gehirn Ihnen das zusätzliche kognitive Workout danken. Und wenn Sie nicht dazu gehören, dann lassen Sie sich einfach auf eine neue Sprache ein. Schauen Sie sich heute Abend vielleicht Ihre ausländische Lieblingsserie in der Originalsprache an oder lesen Sie einen Blog- oder Zeitungsartikel in der Fremdsprache, die Sie gerne besser sprechen würden. Es braucht nicht viel, um mit dem Workout für Ihr Gehirn anzufangen.
Lernen Sie Deutsch oder Englisch?
Falls Sie gerade Ihre Deutsch- oder Englischkenntnisse verbessern, dann könnten Sie es auch mit der Sprachlern-App „StoryPlanet Deutsch“ oder „StoryPlanet Englisch“ versuchen. Damit können Sie neue Vokabeln im Kontext unterhaltsamer Mini-Stories üben und so ganz nebenbei und mit wenig Zeitaufwand Ihren Wortschatz erweitern.
Von Mehrsprachigkeit zur Transkreation
Übrigens, dieser Blogbeitrag ist die Transkreation eines Artikels meiner Kollegin und Englisch-Muttersprachlerin Evelyn Johnson (ihr Blogartikel trägt den Titel „Multilingualism and the Mind“). Bei meiner Adaption habe ich mir ein paar „Freiheiten“ genommen: manchmal etwas gekürzt, manchmal etwas hinzugefügt und nicht zuletzt auch meine eigenen Erfahrungen eingebracht, um den Text persönlicher zu gestalten. Klingt nicht nach einer klassischen 1-zu-1-Übersetzung? Soll es auch nicht sein. Denn die Transkreation ist eine passgenaue Adaption eines Textes für Zielgruppen in anderen Kulturen – stets mit einem guten Schuss Kreativität und Gespür für die lokalen Besonderheiten der Zielsprache.
Hat Ihnen diese Transkreation gefallen? Sie haben Interesse daran, Ihre Texte von uns (ins Deutsche oder Englische) transkreieren zu lassen? Dann kontaktieren Sie uns über unser Kontaktformular. Wir freuen uns auf Ihre Nachricht und erstellen gerne ein unverbindliches Angebot für Sie.